Dharma-Zweites Kapitel

Zweites Kapitel
DAS REIN GEISTIGE UND
DIE WIRKLICHKEIT ALLER DINGE
I
UNBESTÄNDIGKEIT UND ICHLOSIGKEIT

1. Da sowohl der Körper als auch der Geist nur Folgeerscheinungen bestimmter Ursachen sind, kann es kein eigenständiges Ich geben. Weil der menschliche Körper zahlreichen Einwirkungen ausgesetzt ist, verändert er sich laufend.
Wäre der Körper ein eigenständiges Ich, dann könnte er selbst bestimmen, was er tun will.
Ein König hat die Macht, nach eigenem Gutdünken Lob und Strafe zu erteilen, dennoch wird er gegen seinen Willen krank, fällt ungewollt in Siechtum, so daß sein Schicksal und seine Wünsche dann kaum noch übereinstimmen.
Auch der menschliche Geist ist kein selbständiges Ich. Er ist ebenfalls vielfältigen Einflüssen ausgesetzt und unterliegt daher ständiger Veränderung.
Wäre der Geist ein selbständiges Ich, dann könnte er frei über seinen Willen verfügen. Aber der Geist scheut oft wider besseres Wissen das Rechte und jagt ungewollt dem Bösen nach. Nichts scheint genau in dem Sinne zu geschehen, wie es das Ich wünscht.
2. Würde man gefragt, ob der Körper beständig oder unbeständig sei, dann müßte man antworten: "unbeständig."
Würde man gefragt, ob die Unbeständigkeit Glück oder Leiden bringe, dann müßte man antworten: "Leiden."
Es ist völlig falsch zu glauben, daß das Ich, welches so unbeständig und voller Leiden ist, irgendeine Selbständigkeit besitzt.
Auch der menschliche Geist ist unbeständig und leidend. Er besitzt kein selbständiges Ich.
Weder auf den Körper noch auf den Geist, welche das persönliche Leben ausmachen oder die Außenwelt, die das Leben zu umgeben scheint, treffen daher die beiden Begriffe "Ich" und "mein" zu.
Wenn der Geist nur von unreinen Wünschen um wölkt ist und der Weisheit verschlossen bleibt, dann beharrt er hartnäckig auf dem Denken des "Ich" und "mein."
Da sowohl der Körper als auch dessen Umwelt durch das Zusammenwirken von verschiedenen Ursachen geschaffen sind, ändern sie sich fortdauernd und werden nie zu einem Stillstand gelangen können.
Der menschliche Geist ist in seinem nie endenden Wandel wie das stets fließende Wasser eines Flusses. Wie ein wildes Tier springt er dauernd umher und hört damit nicht für einen Augenblick auf.
Wenn ein weiser Mann dies sieht, müßte er jegliche Beschäftigung mit dem Körper und dem Geist aufgeben, wollte er je zur Erleuchtung gelangen.
3. Es gibt fünf Tatsachen, an denen nichts zu ändern ist: Man kann nicht aufhören, alt zu werden, wenn man altert; man kann nicht genesen, wenn man unheilbar krank ist; man kann sich dem Tod nicht widersetzen, wenn man stirbt; man kann das Verfall nicht verhindern, da es ihn doch gibt; man kann das Vergehen aller Dinge nicht verleugnen, da ohnehin alles vergägnglich ist.
Für alle Menschen in der Welt treffen diese Tatsachen früher oder später zu, und die meisten Menschen leiden daran, weil sie sich damit nicht abfinden können. Doch jene, welche die Lehren Buddhas erworben haben, leiden nicht, denn sie verstehen, daß diese Tatsachen unvermeidbar sind.
Hinzu kommen vier unabänderliche Wahrheiten: Menschlichen Wahrnehmungen und Empfindungen fehlt die Erleuchtung; Folge aller unreinen Wünsche sind endlose Wechsel, Ungewißheit und Leiden; unabänderliche Tatsachen bringen ebenfalls Wechsel, Ungewißheit und Leiden. Schließlich gibt es nichts, was ein selbständiges Ich genannt werden kann, und nichts auf der Welt kann mit dem Begriff "mein" bezeichnet werden.
Diese Tatsachen, wonach alles leer, vergänglich und unpersönlich ist, haben keinen Einfluß darauf, ob Buddha erscheint oder nicht. Diese Tatsachen und Wahrheiten sind unbestreitbar. Buddha weiß dieses und predigt daher allen Menschen den Dharma.
Il DIE TATSACHE DES "REIN GEISTIGEN"
1. Sowohl die Verblendung als auch die Erleuchtung haben ihren Ursprung im Geist. Und jede Beobachtung entspringt der Tätigkeit des Geistes, genauso wie die verschiedensten Dinge aus dem Ärmel eines Zauberers hervorkommen.
Die Tätigkeiten des Geistes haben keine Grenze und bilden die Umgebung des Geistes. Ein unreiner Geist umgibt sich mit unreinen Dingen, und ein reiner Geist umgibt sich mit reinen Dingen, daher hat die Umgebung des Geistes keine größeren Grenzen als dessen Tätigkeiten.
Wenn ein Künstler ein Bild malt, dann kommen die Einzelheiten aus seinem Geist, und ein einziges Bild kann eine grenzenlose Vielfalt von Einzelheiten enthalten. Die Umwelt, die Buddha geschaffen hat, ist rein und frei von Begierden, anders als jene, die vom Menschen geschaffen wurde.
So füllt der menschliche Geist den Rahmen des Lebens. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht vom Geist geschaffen ist, und wie der menschliche Geist wirkt, so wirkt auch Buddha, und alle anderen Lebewesen handeln so, wie Buddha handelt. So sind bei der großen Aufgabe der Schöpfung der menschliche Geist, Buddha und alle anderen Lebewesen gleichermaßen wirksam.
Buddha versteht alle Dinge, die dem menschlichen Geist entspringen, richtig. Deshalb können jene, die dieses wissen, den wahren Buddha sehen.
2. Aber die vom Geist geschaffene Umgebung hat auch ihre Schattenseiten. Der Geist beklagt die Vergangenheit und die Gegenwart und fürchtet die Zukunft, denn die menschliche Umgebung ist entstanden aus Unwissenheit und Begierde.
Die Welt der Verblendung nimmt ihren Anfang in der Unwissenheit und der Begierde, und die gewaltige Gesamtheit aller gemeinsam wirkenden Ursachen und Bedingungen hat im Geist ihren Ort und nirgendwo sonst.
Sowohl die Vorstellung vom Leben als auch vom Tod entsteht aus dem Geist und existiert nur im Geist. Wenn jedoch diese Verblendung von Leben und Tod von unserem Geist abfällt, dann überwinden wir diese falsche Vorstellung von Leben und Tod.
Ein unaufgeklärtes und verwirrtes Leben entsteht aus einem Geist, der verwirrt ist durch die Welt der Verblendung. Wer erkennt, daß es außerhalb des Geistes keine Welt der Verblendung gibt, dessen verwirrter Geist wird klar. Wer aufhört, sich eine unreine Umgebung zu schaffen, gelangt zur Erleuchtung.
So wird die Welt des Lebens und des Todes durch den Geist geschaffen, steht unter der Herrschaft des Geistes, wird vom Geist gesteuert. Der Geist ist Herr über alles, was geschieht. Die Welt des Leidens wird durch den verblendeten Geist verursacht.
3. Deshalb unterstehen alle Dinge ausschließlich der Herrschaft des Geistes und werden durch ihn erzeugt. Wie die Räder dem Ochsen folgen, der den Karren zieht, so folgt das Leiden dem Geist, der sich selbst mit unreinen Gedanken und irdischen Leidenschaften umgibt.
Wenn aber ein Mensch mit einem guten Geist spricht und entsprechend handelt, dann folgt ihm das Glück wie sein Schatten. Jene, die in böser, selbstsüchtiger Weise handeln, leiden nicht nur an den Folgen ihrer Taten, sondern werden auch von ihrem schlechten Gewissen geplagt, und die Erinnerung an die böse Tat wird aufbewahrt im Karma. Dies zieht unvermeidlich später einmal eine entsprechende Vergeltung nach sich. Aber jene, die in edler Absicht handeln, werden durch ihr gutes Gewissen beglückt, und werden noch glücklicher bei dem Gedanken, daß sich ihre gute Tat fortsetzt und Glückseligkeit bringt in dem endlosen Leben, das folgen wird.
Ein unreiner Geist bewirkt, daß die Füße auf einem rauhen und beschwerlichen Weg wanken. Es wird manchen Sturz und viele Schmerzen geben. Bei einem reinen Geist aber wird der Pfad eben sein und die Reise angenehm.Wer aber den ebenen und angenehmen Pfad genießen will, der muß im Geiste Buddhas leben und das Netz der selbstsüchtigen, unreinen Gedanken und bösen Wünsche zerreißen. Wer einen ruhigen Geist hat, erlangt inneren Frieden und kann so Tag und Nacht seinen Geist mit mehr Fleiß üben.

III DER WIRKLICHE STAND DER DINGE1. Da alles auf dieser Welt durch den Wettstreit von Ursachen und Wirkungen verursacht wird, kann es keine grundlegende Unterscheidung zwischen den Dingen geben. Die augenscheinlichen Unterschiede bestehen wegen der absurden und verblendeten Gedanken und Wünsche der Menschen.
Am Himmel gibt es keinen Unterschied zwischen Ost und West. Die Menschen schaffen den Unterschied aus ihrem eigenen Geist und glauben dann, daß er wahr wäre.
Mathematische Zahlen von eins bis unendlich sind jeweils vollständige Zahlen, und jede für sich zeigt keinen Unterschied an Quantität. Die Menschen machen die Unterscheidungen zu ihren eigenen Gunsten, so als ob sie fähig wären, auf sich unterscheidende Beträge hinzu weisen.
In dem umfassenden Schöpfungsprozeß gibt es keine eigenen Unterschiede zwischen dem Prozeß des Lebens und dem Prozeß der Zerstörung. Menschen machen einen Unterschied und nennen das eine Geburt und das andere Tod. Im Handeln gibt es keinen Unterschied zwischen richtig und falsch, aber die Menschen machen eine Unterscheidung für ihre eigene törichte Bequemlichkeit.
Buddha hält sich von diesen Unterscheidungen fern und schaut auf die Welt wie auf eine vorbeiziehende Wolke. Für Buddha ist jedes bestimmte Ding Illusion, etwas, was vom Geist geschaffen wird. Er weiß, daß was auch immer der Geist ergreift und wieder wegwerfen kann, Nichtigkeiten sind. So vermeidet er die Fallen der Vorstellungen und unterscheidenden Gedanken.
2. Die Menschen greifen nach Dingen, die für ihren eigenen eingebildeten Vorteil und ihre Bequemlichkeit bestimmt sind. Sie greifen nach Reichtum, Schatz und Ehren. Sie hängen verzweifelt am Leben.
Sie machen willkürliche Unterschiede zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht. Denn das Leben der Menschen ist eine Aufeinanderfolge von Habsüchtigkeiten und Bindungen, und deshalb müssen sie die Täuschungen des Schmerzes und des Leidens auf sich nehmen.
Es war einmal ein Mann, der auf einer langen Reise an einen Fluß kam. Er sagte zu sich: "Diese Seite des Flusses ist sehr schwierig und gefährlich zu passieren, und die andere Seite scheint dafür leichter und sicherer zu sein, aber wie soll ich hinüberkommen?" So baute er sich ein Floß aus Zweigen und Schilfrohr und überquerte sicher den Fluß. Dann dachte er bei sich: "Dieses Floß ist mir beim Überqueren des Flusses sehr nützlich gewesen. Ich werde es nicht sich selbst überlassen, damit es am Ufer vermodert, sondern werde es mitnehmen." So nahm er freiwillig eine unnötige Last auf sich. Kann dieser Mann ein weiser Mann genannt werden?
Dieses Gleichnis lehrt, daß selbst eine gute Sache, wenn sie eine unnötige Last wird, weggeworfen werden sollte. Um so eher noch, wenn es eine schlechte Sache ist. Buddha machte es zur Regel seines Lebens, unnütze und unnötige Diskussionen zu vermeiden.
3. Dinge kommen nicht und gehen nicht, noch er scheinen oder verschwinden sie. Deshalb bekommt man weder etwas, noch verliert man etwas.
Buddha lehrt, daß Dinge weder erscheinen noch verschwinden, da sie jenseits von der Bejahung und Verneinung der Existenz liegen, und er lehrte auch, daß es weder Geburt noch Tod gibt. Das heißt, daß alles eine Übereinstimmung und eine Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen ist, da ein Ding an sich nicht existiert, so daß man von ihm sagen könnte, es sei nicht existent. Da es aber einen relativen Zusammenhang mit Ursachen und Wirkungen hat, kann man wiederum nicht sagen, daß es nichtexistent sei.
An einem Ding wegen seiner Gestalt festzuhalten, ist der Ursprung der Verblendung. Wenn man diese Gestalt nicht ergreift und nicht an ihr festhält, werden diese falsche Vorstellung und die sinnlose Verblendung nicht auftreten. Erleuchtung bedeutet die Weisheit, diese Wahrheit zu erkennen und so eine törichte Verblendung zu vermeiden.
Die Welt ist in der Tat wie ein Traum, und die Schätze der Welt sind eine verlockende Fata Morgana! Wie die augenscheinlichen Entfernungen auf einem Bild, so haben die Dinge keine Wirklichkeit in sich selbst, sondern sind vielmehr wie vorüberziehende Wolken.
4. Zu glauben, daß Dinge, die von unberechenbaren Reihen von Ursachen geschaffen wurden, ewig dauern könnten, ist ein ernsthafter Fehler und wird die "Theorie der Dauer" genannt. Aber es ist ein ebenso großer Fehler zu glauben, daß Dinge völlig verschwinden. Dies nennt man die "Theorie der Nichtexistenz."
Diese Kategorien des ewigdauernden Lebens und des ewigdauernden Todes, und die Bestätigung und die Verneinung von diesen, lassen sich nicht auf das eigentliche Wesen der Dinge anwenden, sondern nur auf ihre Erscheinungen, wie sie vom menschlichen Auge gesehen werden. Aufgrund des menschlichen Verlangens kommen Menschen in Beziehung zu diesen Erscheinungen und werden mit ihnen verbunden, aber was das eigentliche Wesen der Dinge betrifft, so ist dieses frei von allen Unterscheidungen und Verbindungen.
Da alles durch eine Reihe von Ursachen und Wirkungen geschaffen wurde, ändert sich die Erscheinung der Dinge ständig. Das heißt, was sie betrifft, so gibt es keine Beständigkeit, wie es sie bei wirklichen Dingen geben sollte. Wegen dieser ständigen Veränderung der Erscheinungen, vergleichen wir Dinge mit einer Fata Morgana oder einem Traum. Aber trotz dieser ständigen Veränderung in der Erscheinung sind die Dinge ihrem eigentlichen Wesen nach beständig und unveränderlich.
Ein Fluß erscheint einem Menschen wie ein Fluß, aber einem hungrigen Dämonen, der Feuer im Wasser sieht, kann er wie Feuer erscheinen. Deshalb würde es einen gewissen Sinn haben, mit einem Mann über einen existierenden Fluß zu sprechen, aber für dieses legendäre Wesen würden solche Worte keine' Bedeutung haben.
In ähnlicher Weise kann man es von allen Dingen sagen: "Dinge sind wie Illusionen, sie existieren und existieren nicht."
Ferner ist es ein Fehler, dieses vergängliche Leben für das unveränderliche Leben der Wahrheit zu halten. Man kann nicht sagen, daß es jenseits dieser Welt der Veränderung und der Erscheinung noch eine Welt der Beständigkeit und der Wahrheit gibt. Dieses veränderliche, vergängliche Leben ist das Leben der Wahrheit; es gibt nur ein wahrhaftes Leben. Es ist ein Fehler anzunehmen, diese Welt sei entweder vorübergehend oder wirklich.
Aber unwissende Menschen dieser Welt, die annehmen, daß dies eine wirkliche Welt ist, fahren fort, nach dieser absurden Annahme zu handeln. Da aber diese Welt nur eine Einbildung ist, führen ihre Taten, die auf Irrtum beruhen, nur zu Schaden und Leiden.
Aber ein weiser Mann handelt nicht so, als wäre diese Welt real, sondern er erkennt, daß sie nichts als Illusion ist, und entgeht somit dem Leiden.
IV DER WEG DER MITTE1. Für jene, die den Pfad wählen, der zur Erleuchtung führt, gibt es zwei Extreme, die sorgfältig vermieden werden sollten. Erstens das Extrem der Nachsicht mit den Wünschen des Körpers, den Launen des Geistes und dem Stolz des Lebens, die auf ganz natürliche Weise den jenigen befällt, der der Bemerkung anhängt, daß diese Welt eine wirkliche Welt sei und dieses Leben ein Ende in sich selbst habe. Zweitens gibt es das entgegengesetzte Extrem, das ganz natürlich denjenigen erreicht, der an der Bemerkung festhält, daß eine Welt der Wahrheit die einzige Wahrheit sei. Für den einen wird es leicht sein, diesem Leben zu entsagen, zu dem Extrem der asketischen Disziplin überzugehen und seinen Körper und Geist unmäßig zu foltern.
Der Edle Pfad, der über diese beiden Extreme hinaus und zu Erleuchtung, Weisheit und Frieden des Geistes führt, kann das Leben des goldenen Mannes genannt werden. Dieser Edle Pfad des mittleren Weges, auf den Buddha in der vierfachen Edlen Wahrheit hinweist als den Weg, der zur Auslöschung des Wunsches und deshalb zur Beendigung des Leidens führt, besteht aus acht Etappen: Richtige Meinung, richtige Gedanken, richtige Sprache, richtiges Benehmen, richtige Lebhaftigkeit, richtiges Bemühen, richtige Achtsamkeit und richtige Meditation. Wie schon erwähnt, erscheinen oder verschwinden alle Dinge aufgrund einer endlosen Reihe von Ursachen. Unwissende Menschen sehen das Leben entweder als Existenz oder als Nichtexistenz, aber weise Menschen sehen sowohl über die Existenz als auch über die Nichtexistenz hinaus auf etwas, das sie beide einschließt. Das ist eine Beobachtung des mittleren Weges.
2. Nehmen wir an, ein Baumstamm treibe in einem Fluß. Wenn der Baumstamm nicht auf den Grund gelangt oder sinkt oder nicht von einem Mann herausgenommen wird oder nicht verfault, so wird er zu guter Letzt das Meer erreichen. Das Leben ist wie dieser Baumstamm, der in der Strömung eines großen Flusses erfaßt wird. Wenn eine Person nicht an ein Leben der Selbstnachsicht gebunden wird, oder, indem sie dem Leben entsagt, an ein Leben der Selbstquälerei gebunden wird; wenn eine Person nicht stolz auf ihre Tugend oder auf ihre bösen Taten wird; wenn sie in ihrer Suche nach Erleuchtung die Verblendung nicht verachtet oder sie fürchtet, dann folgt so jemand dem Weg der Mitte.
Wesentlich auf dem Wege zur Erleuchtung ist, daß man sich nicht in Extremen verfängt; das bedeutet, daß man immer dem Weg der Mitte folgt.
Indem man weiß, daß die Dinge weder existieren noch nicht existieren, indem man sich daran erinnert, daß das traumhafte Wesen von allem, daß sogar seine eigene Ich-Persönlichkeit .keine Substanz in sich selbst hat, sollte man es vermeiden, von dem Stolz der Persönlichkeit, oder dem Lobpreis für gute Taten oder von irgend etwas anderem ergriffen und verwickelt zu werden.
Wenn aber jemand es vermeiden sollte, in dem Strom seiner Wünsche gefangen zu werden, muß er gerade am Anfang lernen, nicht nach Dingen zu greifen, damit er sich nicht an sie gewöhnt und sich nicht an sie bindet. Er darf sich weder an die Existenz noch an die Nichtexistenz, an irgend etwas im Innern oder Äußeren, noch an gute oder schlechte Dinge, oder an Richtiges oder Falsches binden.
Wenn er sich an die Dinge bindet, beginnt gerade in diesem Augenblick ganz plötzlich das Leben der Verblendung. Derjenige, der dem Edlen Pfad zur Erleuchtung folgt, wird nicht an Schmerzen festhalten, noch an Erwartungen, sondern mit einem gerechten und friedvollen Geist wird er dem begegnen, was kommt.
3. Erleuchtung hat keine bestimmte Gestalt oder kein bestimmtes Wesen, durch die sie sich selbst offenbaren kann, so gibt es in der Erleuchtung nichts, das erleuchtet werden muß.
Erleuchtung existiert nur wegen der Verblendung und der Unwissenheit. Wenn sie verschwinden, so wird dies auch die Erleuchtung. Und das Gegenteil ist auch wahr: Verblendung und Unwissenheit existieren wegen der Erleuchtung. Wenn die Erleuchtung aufhört, werden auch Verblendung und Unwissenheit aufhören.
Deshalb, hüte man sich vor dem Gedanken, daß die Erleuchtung ein "Ding" ist, nach dem man greifen kann, sonst wird es auch zum Hindernis werden. Wenn der Geist, der sich in Dunkelheit befand, erleuchtet wird, so wird er sterben, und indem er stirbt, wird auch die Erleuchtung sterben.
Solange Menschen nach der Erleuchtung verlangen und nach ihr greifen, bedeutet das, daß sie noch verblendet sind. Deshalb dürfen jene, die dem Weg der Erleuchtung folgen, nicht danach greifen, und wenn sie zur Erleuchtung gelangen, dürfen sie sich nicht an sie binden.
Wenn Menschen, die Erleuchtung erlangen, aber dennoch fortfahren, sich an dem Begriff der Erleuchtung festzuhalten, bedeutet dies, daß die Erleuchtung selbst eine hindernde Verblendung geworden ist. Deshalb sollten die Menschen dem Pfad der Erleuchtung folgen, bis in ihren Gedanken irdische Leidenschaften und Erleuchtung eins geworden sind.
4. Diese Konzeption der allumfassenden Einheit, die darin besteht, daß Dinge ihrem eigentlichen Wesen nach keine unterscheidenden Merkmale haben, wird "Sunyata" genannt. Sunyata bedeutet Leere, das Ungeborene, bedeutet, kein eigenes Wesen zu haben, keine Dualität. Das ist so, weil die Dinge an sich keine Gestalt oder Wesenzüge haben, von denen wir sagen können, daß sie entstanden wären oder zerstört worden wären. Es gibt nichts über das eigentliche Wesen der Dinge, was man mit Worten der Unterscheidung beschreiben könnte. Deshalb werden Dinge Sunyata genannt.
Wie schon herausgestellt wurde, erscheinen und verschwinden alle Dinge aufgrund des Zusammenwirkens von Ursachen und Wirkungen, Nichts existiert immer für sich ganz allein. Alles steht zu allem anderen in Beziehung .
Wo immer es Licht gibt, gibt es auch Schatten. Wo immer es Länge gibt, gibt es auch Kürze. Deshalb müssen wir, wo immer wir das Wesen des Selbst erklären, auch Sunyata zulassen. Da das Eigenwesen der Dinge nicht allein existieren kann, muß es die Leere geben.
Aus demselben Grund kann weder die Erleuchtung von der Unwissenheit getrennt existieren, noch die Unwissenheit getrennt von der Erleuchtung. Wenn sich die Dinge in der Essenz ihrer Natur nicht unterscheiden, wie kann es dann Dualität geben?
5. Die Menschen glauben von sich gewöhnlich, daß sie mit Geburt und Tod verbunden sind, aber in Wirklichkeit gibt es solche Konzepte nicht.
Wenn Menschen fähig sind, diese Wahrheit zu verwirklichen, haben sie die Wahrheiten der Nichtdualität und das Sunyata verwirklicht.
Weil die Menschen an dem Gedanken einer Ich Persönlichkeit festhalten, bleiben sie dem Besitzdenken verhaftet, aber da es so etwas wie ein Ego nicht gibt, kann es auch keinen Besitz geben. Wenn die Menschen fähig sind, diese Wahrheit zu verstehen, So werden sie auch fähig sein, die Wahrheit des Nicht-Selbst zu verwirklichen.
Die Menschen halten an der Unterscheidung von Reinheit und Unreinheit fest, aber in der Natur der Dinge gibt es keine solche Unterscheidung, außer daß sie ihren falschen und absurden Vorstellungen entspringt.
In gleicher Weise treffen die Menschen eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Aber es gibt kein Gutes oder Böses, das vom anderen getrennt existiert. Menschen , die in eine Welt der sozialen Beziehungen vertieft sind, werden solch eine Unterscheidung treffen, aber jene, die dem Pfad der Erleuchtung folgen, würden eine solche Dualität nicht anerkennen, und es sollte sie dazu führen, weder das Gute zu loben noch das Böse zu verdammen, noch das Gute zu verachten und das Böse zu verzeihen.
Menschen fürchten natürlich das Mißgeschick und streben nach Glück, aber wenn die Unterscheidung sorgfältig geprüft wird, wendet sich Mißgeschick oft zu Glück und Glück zu Mißgeschick. Der weise Mensch lernt, den sich ändernden Lebensbedingungen mit einem gerechten Geist zu begegnen, indem er weder durch seinen Erfolg stolz noch durch sein Versagen niedergeschlagen wird. So verwirklicht man Nicht-Dualität.
Deshalb sollten alle diese Worte, welche die Beziehungen der Dualität ausdrücken - wie Existenz und Nicht-existent, irdische Leidenschaften und wahres Wissen, Reinheit und Unreinheit, Gut und Böse - all jene Begriffe, die in unserem Denken im Gegensatz zueinander stehen, eifrig vermieden werden, da sie nur Verwirrung stiften. Wenn Menschen sich von solchen Begriffen fernhalten und von den Gefühlen, die durch sie entstehen, dann verwirklichen sie Sunyatas allumfassende Leere.
6. So wie die reine und duftende Lotusblume eher aus dem Schlamm eines Sumpfes sprießt als aus dem reinen Mutterboden eines Feldes im Hochland, so entspringt die reine Erleuchtung aus dem Unrat der irdischen Leidenschaften. Selbst die falschen Sehweisen anderer Schulen und die Verblandungen irdischer Leidenschaften können die Samen der Erleuchtung sein.
Wenn ein 'Taucher seine Perlen bergen will, muß er in das Meer hinabsteigen und all den Gefahren, wie den gezahnten Korallen und den bösartigen Haifischen, trotzen. So muß der Mensch den Gefahren der irdischen Leidenschaft entgegentreten, wenn er die kostbare Perle der Erleuchtung schützen will. Er muß zuerst das Leiden und die Einsamkeit kennenlernen, bevor er Sympathie und Mitgefühl schätzen wird. Er muß sich zuerst in den bergigen Klippen des Egoismus und der Ichbezogenheit verlieren, bevor in ihm der Wunsch erwachen wird, einen Pfad zu finden, der ihm zur Erleuchtung führt.
Es gibt die Legende eines alten Einsiedlers, der einen solchen Wunsch, den wahren Weg zu finden, hatte, so daß er einen Berg aus Schwertern erklomm und sich in ein Feuer stürzte und dies alles aufgrund seiner Hoffnung durchstand. Er, der gewillt ist, die Gefahren des Weges zu riskieren, wird eine kühle Brise empfinden, die auf den Bergen der Ichbezogenheit, die von Schwertern strotzen, weht, und er wird am Ende in den Flammen des Haßas einsehen, daß die Ichbezogenheit und die irdischen Leidenschaften, gegen die er gekämpft und derentwegen er gelitten hat, die Erleuchtung selbst sind.
7. Buddhas Lehre führt uns vom Konflikt des Dualitätsdenkens hinweg zur Einigkeit. Es ist ein Fehler der Menschen, nach etwas zu suchen, das sie für gut und recht halten, und vor etwas anderem zu fliehen, das sie als schlecht und böse erachten.
Wenn Menschen darauf bestehen, daß alle Dinge leer und vergänglich sind, so ist das ein ebenso großer Fehler wie darauf zu bestehen, daß alle Dinge wirklich sind und sich nicht verändern. Wenn eine Person an ihrer Ich Persönlichkeit festhält, ist dies ein Fehler, da es sie nicht vor Unzufriedenheit und Leiden retten kann. Wenn sie glaubt, daß es kein Ego gibt, ist es auch ein Fehler und es wäre nutzlos für diese Person, den Weg der Wahrheit zu praktizieren. Wenn Menschen behaupten, daß alles Leid sei, ist dies ein Irrtum. Wenn Menschen versichern, daß alles Glück sei, ist dies auch ein Irrtum. Buddha lehrt den Mittleren Weg, wo die Dualität zur Einheit verschmilzt: den Edlen Pfad, der zur Zufriedenheit und zum Frieden führt.

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