Drittes Kapitel
DIE GESTALT VON BUDDHA UND SEINE TUGENDEN
I
DREI WESENSZÜGE VON BUDDHA
1. Man soll nicht danach trachten, Buddha als körperliche Gestalt mit Eigenschaften zu begreifen, denn weder die Gestalt noch die Eigenschaften sind der wahre Buddha. Dieser ist die Erleuchtung selbst. Der wahre Weg, Buddha zu erkennen, besteht darin, selbst Erleuchtung zu erlangen.
Wenn jemand ein selten schönes Bild von Buddha erblickt und dann glaubt, er kenne nun Buddha, dann ist das der Irrtum eines unwissenden Auges, denn der wahre Buddha kann nicht in einer Gestalt verkörpert sein oder vom menschlichen Auge gesehen werden. Auch kann man Buddha nicht durch eine Beschreibung seiner Eigenschaften begreifen. Denn es ist nicht möglich, Buddhas Eigenschaften mit menschlichen Worten zu beschreiben.
Obwohl wir von seiner Gestalt sprechen, hat der Ewige Buddha keine Gestalt, er kann sich jedoch in jedweder Form offenbaren. Obwohl wir seine Eigenschaften beschreiben, hat der Ewige Buddha dennoch keine Eigenschaften, er kann sich jedoch in jedweder Eigenschaft offenbaren.
Wenn man die Gestalt Buddhas deutlich sieht oder seine Eigenschaften klar wahrnimmt, und dennoch seine Gestalt oder seinen Eigenschaften nicht anhängt, nur dann kann man Buddha richtig sehen und erkennen.
2. Buddhas Gestalt ist die Erleuchtung selbst. Obwohl die Erleuchtung weder Gestalt noch Körper hat, hat sie schon immer bestanden und wird auch immer bestehen bleiben. Sie ist also keine körperliche Gestalt, die irgendwann einmal einen Anfang hatte und ernährt werden muß. Sie ist geistiger Natur; ihr Wesen ist die Weisheit. Buddha wird nie erkranken oder verängstigt werden: Er ist ewig unveränderlich.
Deshalb wird Buddha nie vergehen, und ebenso lange wird der Weg zur Erleuchtung bestehen. Erleuchtung stellt sich den Menschen als das Licht der Weisheit dar, das sie zu einem völlig neuartigen Leben erweckt und bewirkt, daß sie in Buddhas Welt neu hineingeboren werden.
Wer solches erlebt hat, wird Buddhas Kind. Es erhält seinen Dharma, achtet seine Lehren und überliefert sie seinen Nachkommen. Nichts kann wunderbarer und natürlicher sein als Buddhas Größe.
3. Buddha hat drei verschiedene Wesenszüge. Da ist einmal der Wesenszug des Geistes, der allumfassend, unerschöpflich und unfaßbar ist; dann der Wesenszug der Allmächtigkeit, die grenzenlos und nicht begreiflich ist; und schließlich der Wesenszug der Offenbarung, die sich sowohl in Taten als auch in unveränderlichem Frieden äußert.
Als Geist ist Buddha das Wesen des Dharma; er ist das Wesen der Wahrheit selbst. In einem Wesenszug des Geistes hat Buddha weder Form noch Farbe, und da er weder Form noch Farbe hat, gibt es auch keinen Ort, von dem er kommt und zu dem er geht'. So wie das Firmament umwölbt er alles, und da er selbst alles ist, fehlt ihm nichts. Er ist nicht deswegen vorhanden, weil Menschen glauben, es gäbe ihn; er löst sich auch nicht auf, wenn er vergessen wird.
Er muß nicht unbedingt erscheinen, wenn Menschen glücklich sind und sich wohl fühlen. Es ist auch nicht nötig für ihn, sich zu entfernen, wenn Menschen auf ihn nicht achten und eitel sind. Buddhas Geist ist über alle menschlichen Gesinnungen erhaben.
Buddhas Gestalt füllt alle Winkel des gesamten Alls aus. Sie reicht überallhin, sie besteht ewig und ungeachtet dessen, ob Menschen an Buddha glauben oder an ihm zweifeln.
4. Der Wesenszug der Allmächtigkeit bedeutet, daß im Wesen Buddhas Mitleid und Weisheit zu einem unvorstellbaren Geist verschmelzen, der fähig ist, sich in den Zeichen von Geburt und Tod, von Unwissenheit und Erleuchtung zu offenbaren, und der fähig ist, durch die Zeichen der Einhaltung von Gelübden und der Übung, alle Menschen zum Heil zu führen.
Somit ist Mitleid das Wesen des Dharma, und in seinem Geist führt Buddha vielfältige Pläne geschickt aus, um all jene zu befreien, die zur Befreiung innerlich bereit sind. Wie ein Feuer, das einmal entzündet, nicht eher verglüht als bis der Brennstoff ausgeht, so wird das Mitleid Buddhas nicht eher aufhören zu wirken, bis nicht alle irdische Leidenschaft erschöpft ist. So wie der Wind den Staub wegbläst, so bläst Buddhas Mitleid den Staub menschlichen Leidens weg.
Der Wesenszug der Offenbarung bedeutet, daß Buddha, um seine Erleuchtung durch Allmächtigkeit zu beweisen, in körperlicher Gestalt auf der Welt erscheint und den Menschen, je nach ihren Wesenszügen und ihren Fähigkeiten, seine Geburt, seine Entsagungen und das Erreichen der Erleuchtung zeigt.
Die Gestalt Buddhas ist das Bild des Dharma, aber so wie das Wesen der Menschen sich ändert, so erscheint auch Buddhas Gestalt in unterschiedlichen Formen. Obwohl sich Buddhas Gestalt den verschiedenen Wünschen, Aufgaben und Fähigkeiten der Menschen entsprechend verändert, befaßt sich Buddha nur mit der Wahrheit des Dharma.
Obwohl Buddha unterschiedliche Wesenszüge hat, sind sein Geist und seine Absichten auf ein einziges Ziel berichtet, nämlich alle Menschen zu erretten.
Obwohl Buddha überall in seiner Reinheit offenbar ist, ist diese Offenbarung dennoch nicht Buddha, weil Buddha keine Gestalt hat. Buddha füllt alles aus; er verkörpert die Erleuchtung, und in dieser Erleuchtung erscheint er all jenen, die fähig sind, die Wahrheit zu verwirklichen.
II.
DIE ERSCHEINUNG BUDDHAS
1. Es ist selten, daß jemand auf der Welt zum Buddha wird. Wenn dies eintritt, erlangt derjenige Erleuchtung, führt den Dharma ein, löst das Netz des Aberglaubens auf, beseitigt die Lockungen trügerischer Hoffungen samt deren Wurzeln und dämmt den Strom des Bösen ein. Völlig ungehindert wandert er ganz nach seinem Belieben durch die Welt. Es gibt nichts Größeres, als sich einem Buddha in Verehrung hinzugeben.
Buddha erscheint auf der Welt, weil er leidende Menschen sich nicht selbst überlassen will. Sein einziger Wille ist es, den Dharma zu verbreiten und alle Menschen mit dessen Wahrheit zu segnen.
Es ist sehr schwer, den Dharma in dieser Welt einzuführen, die erfüllt ist von Ungerechtigkeit, Streit und falschen Vorstellungen, in eine Welt, die vergeblich mit unersättlichen Wünschen und Widerwärtigkeiten kämpft. Buddha sieht diese Schwierigkeiten und will sie wegen seiner großen Liebe und seines Mitleids mit den Menschen bekämpfen.
2. Buddha ist der Freund baller Menschen auf dieser Welt. Wenn Buddha einen Menschen trifft, der unter der schweren Last irdischer Leidenschaften leidet, dann fühlt er Mitleid und teilt die Last mit ihm. Wenn er einen Menschen trifft, der an Verblendung leidet, dann wird er die Verblendung durch das helle Licht seiner Weisheit überwinden.
So wie ein Kalb, das sich nur beim Muttertier seines Lebens erfreut, wollen jene, die Buddhas Lehren einmal gehört haben, ihn danach nie mehr verlassen, weil seine Lehren ihnen Glück bringen.
3. Wenn der Mond untergeht, sagen die Menschen, daß er verschwunden sei; wenn der Mond aufgeht, sagen sie, daß er wiedergekehrt sei. Tatsächlich aber kommt und geht der Mond nicht, sondern er scheint unverändert am Himmel. Buddha ist genauso wie der Mond. Weder kommt noch geht er; er scheint dies nur zu tun, weil er die Menschen liebt und sie unterweisen möchte.
Die Menschen nennen einen bestimmten Stand des Mondes Vollmond, einen anderen Stand nennen so zunehmenden Mond. In Wirklichkeit aber ist der Mond immer rund, weder zu- noch abnehmend. Buddha ist ebenso wie der Mond. In den Augen der Menschen mal Buddhas Erscheinung sich öfters wandeln, aber in Wahrheit ändert sich Buddha nie.
Der Mond scheint überall; über einer großen Stadt einem schlafenden Dorf, einem Berg, einem Fluß. De Mond ist in den Tiefen eines Teiches zu sehen, in einer Krug mit Wasser, in einem Tautropfen, der auf einem Blatt hängt. Wenn ein Mensch Hunderte von Meilen geht: der Mond begleitet ihn. Für Menschen scheint sich der Mond zu verändern, aber der Mond bleibt wie er ist. Buddha ist wie der Mond, wenn er den Menschen dieser Welt bei all ihren Lebensveränderungen folgt und sich darauf einstellt, aber bezüglich seines Wesens ändert er sich nicht. Das ist so, weil Buddha in seinem Mitleid und seiner Weisheit die Menschen an Ursachen und Bedingungen seines Kommens und Gehens denken läßt, um so ihr Vertrauen in seine Unveränderlichkeit zu wecken.
4. Die Annahme, daß Buddha komme und gehe, könnte sich einfach erklären lassen: Wenn die Bedingungen günstig sind, erscheint Buddha; wenn die Bedingungen ungünstig sind, zieht sich Buddha von der Welt zurück.
Auch wenn es so aussieht, als ob Buddha kommt und geht, so ist er doch immer derselbe. Man soll diese Wahrheit erkennen. Man soll sich nicht über seine Vergänglichkeit, die Buddha aufzeigt, betrüben, sondern man soll erleuchtet werden, und die Weisheit erlangen.
Es wurde gezeigt, daß Buddha keine leibliche Gestalt sondern Erleuchtung ist. Der Leib kann als Behälter angesehen werden; der Behälter kann dann Buddha genannt werden, wenn er mit Erleuchtung gefüllt ist. Aber wenn jemand dem Irrtum verfällt, Buddha habe eine leibliche Gestalt, die sich verselbständigt und deren Vergänglichkeit zu beklagen sei, dann ist er unfähig, den wahren Buddha zu verwirklichen.
In Wirklichkeit sind alle Dinge frei von dem Merkmal des Kommens und des Gehens: es gibt zwischen beiden keinen Unterschied, auch keinen zwischen Gut und Böse. Alle Dinge sind von vollkommener Leere und vollkommener Gleichartigkeit.
Jene Menschen, die diese Phänomene falsch beurteilen, verursachen solche Unterscheidungen. Weder kommt die wahre Gestalt Buddhas, noch vergeht sie.
III.
BUDDHAS TUGEND
1. Die Welt zollt Buddha Ehre und Hochachtung wegen seiner fünf Tugenden. Es sind dies: Vorbildliches Verhalten, Unerschütterlichkeit des Standpunktes, vollkommene Weisheit, hohe Kunst des Predigens und die Überzeugungskraft kraft, Menschen zur Ausübung seiner Lehre zu führen.
Außerdem zeichnen Buddha acht weitere Tugenden aus, nämlich:
- Er verleiht den Menschen Glück und Segen.
- Er bringt der Welt durch die Ausübung seiner Lehre beständiges Wohlergehen.
- Er klärt den Menschen darüber auf, was gut und böse ist in dieser Welt.
- Er zeigt den Menschen den richtigen Weg zur Erleuchtung.
- Er führt alle Menschen auf dem gleichen Weg zur Erleuchtung.
- Er zeigt weder Stolz noch Prahlerei.
- Er läßt seinen Worten Taten folgen und hält ein, was er verspricht.
- Er verfolgt unbeirrt sein Ziel, den Menschen Glück und Segen zu bringen, und erfüllt seine Gelübde.
Durch die Ausübung der Meditation erwarb Buddha die innere Ruhe und einen friedvollen Geist. Er zeigt sowohl Zuneigung als auch Mitleid allen Menschen gegenüber; er ist voller Seligkeit und Ruhe im Herzen, ganz ohne Leidenschaften. Dieser Zustand der Ausgeglichenheit entspricht seinem reinen Herzen.
2. Buddha ist sowohl Vater als auch Mutter für die Menschen der Welt. In den ersten Wochen und Monaten des Lebens müssen die Eltern in kindgemäßen Worten zu ihrem Neugeborenen sprechen, danach lehren sie es allmählich, wie ein Erwachsener zu sprechen.
So wie die irdischen Eltern umsorgt Buddha zunächst die Menschen, dann verläßt er sie, damit sie für sich selbst sorgen. Er achtet darauf, daß ihre Wünsche erfüllt werden, und er stellt sie unter einen friedvollen und sicheren Schutz.
Was Buddha in seiner Sprache predigt, nehmen Menschen in ihrer eigenen Sprache auf und gleichen es ihr an, als wäre es ausschließlich für sie bestimmt.
Buddhas Weisheit übersteigt aber menschliches Denken; sie kann nicht durch bloße Worte offenbart werden; man kann sie nur in Gleichnissen andeuten.
Ein Fluß wird zwar durch die Hufschläge der.Pferde und Kühe aufgerührt und durch die Bewegungen der Fische und Schildkröten in Unruhe gebracht. Er fließt dennoch weiter, ruhig und ungestört, trotz solcher Kleinigkeiten. Buddha ist wie der Fluß. Fische und Schildkröten anderer Lehren schwimmen zwar in ihm umher und treiben gegen seine Strömung, aber vergeblich. Buddhas Dharma fließt weiter, rein und ungestört.
3. Buddhas vollkommene Weisheit schützt vor jeder Voreingenommenheit und bewahrt ein Maß, dessen Großartigkeit nicht mit Worten allein zu beschreiben ist. Da er allwissend ist, kennt er die Gedanken und Gefühle der Menschen und schätzt ihre verschiedenen Lebensverhältnisse richtig ein.
So wie sich die Sterne des Himmels im ruhigen Meer widerspiegeln, so werden die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen der Menschen in den Tiefen der Weisheit Buddhas widergespiegelt. Das ist der Grund, warum Buddha der vollkommen Erleuchtete genannt wird.
Buddhas Weisheit frischt die vertrockneten Sinne der Menschen wieder auf, erleuchtet sie und lehrt sie, das Wesen dieser Welt, ihre Ursachen und Wirkungen und den Wechsel aller Dinge zu verstehen. In der Tat, welcher Bereich der Welt ist ohne die Hilfe von Buddhas Weisheit überhaupt verständlich?
4. Buddha erscheint nicht immer als Buddha. Manch mal erscheint er in der Verkörperung des Bösen, manch mal als eine Frau, ein Gott, ein König oder ein hoher Würdenträger. Manchmal erscheint er in einem Freudenhaus oder in einer Lasterhöhle. Bei einer Epidemie erscheint er als heilender Arzt, und im Krieg predigt er Nachsicht und Gnade für die Leiden der Menschen. Jenen, die sich an den Gedanken der Unvergänglichkeit klammern, predigt er Vergänglichkeit und Unsicherheit; jenen, die auf ihr Selbstgefühl setzen, predigt er Demut und Selbstaufgabe; jenen, die in das Gewebe irdischer Vergnügungen geflochten sind, zeigt er das Elend der Welt. Die Aufgabe Buddhas besteht darin, bei allen Anlässen und zu jeder Gelegenheit das reine Wesen des Dharmakaya.- das ist das absolute Wesens von Buddha zu offenbaren. Aus diesem Dharmakaya strömen Buddhas Gnade und Mitleid mit grenzenlosem Licht in die endlos große Zahl von Lebewesen und bringen der Menschheit Erlösung .
5. Die Welt ist wie ein brennendes Haus, das ständig zerstört und ständig neu aufgebaut wird. Menschen, die durch die Dunkelheit des Unwissens verwirrt werden, verlieren ihre Beherrschung im Zorn und Verdruß, bei Eifersucht, Voreingenommenheit und irdischer Leidenschaft. Sie sind wie Neugeborene, die eine Mutter brauchen; jeder ist von Buddhas Gnade abhängig. Buddha ist der Vater für die ganze Welt. Alle menschlichen Wesen sind Buddhas Kinder. Buddha ist der Heiligste unter den Heiligen. In der Welt herrschen Not, Siechtum und Tod. Überall gibt es Leiden, aber Menschen, Welche in ihrem vergeblichen Suchen nach irdischem Vergnügen aufsehen, sind nicht weise genug, diese Leiden zu erkennen.
Buddha erkannte, daß sein Vergnügungspalast wirklich ein brennendes Haus war. Deshalb floh er von dort und fand Zuflucht und Frieden in dem ruhigen Wald. Dort in der Einsamkeit und Stille überkam sein Herz großes Mitleid, und er kam schließlich zu dem Urteil: "Diese Welt des Leidens und der Vergänglichkeit ist meine Welt. Diese unwissenden, unachtsamen Menschen sind meine Kinder. Ich bin der einzige, der sie von ihrer Verblendung und ihrem Elend erlösen kann."
Da Buddha der große König des Dharma ist, kann er allen Menschen predigen, was er selbst für erforderlich hält. Deshalb erscheint Buddha in der Welt, um den Menschen Segen zu bringen. Um sie von ihrem Leiden zu retten, predigt er den Dharma, aber die Ohren der Menschen sind vor Leidenschaften taub und hören nicht.
Wer aber Buddhas Lehre zuhört, ist frei von den Verblendungen und den Leiden der Welt. "Menschen können nicht dadurch gerettet werden, daß sie sich auf ihre eigene Weisheit verlassen," spricht Buddha, "nur durch Vertrauen können sie an meinem Dharma teilhaben." Deshalb sollte man auf Buddhas Dharma hören und ihn verwirklichen.